Fluch und Segen des 9. November

INGRID LIEZ …

Der 9. November wird in der Öffentlichkeit gerne als ein Tag des Schicksals für die Deutschen bezeichnet. Es ist geradezu unheimlich, was im Zusammenhang mit Deutschland an diesem Datum im Laufe der Jahrhunderte passiert ist – Gutes wie Schlechtes.

Ein Astrologe würde es auf Sternenkonstellationen zurückführen, vielleicht wurde das Datum teilweise willkürlich gewählt. Fest steht jedoch, dass jeweils am 9. November historische Ereignisse stattfanden, die einen Umbruch markieren. Dabei ist der Fall der Mauer zwischen BRD und DDR am 9. November 1989 nur das letzte bedeutende Datum für die Deutschen, in einer Reihe von Ereignissen, von denen die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 das schlimmste darstellt: Staatlich verordneter Antisemitismus entlud sich in zahllosen Gewalttaten gegen die jüdische deutsche Bevölkerung.

Chronologisch als erstes zu erwähnen sei der 9. November 1848 – von diesem Tag an scheiterte die sogenannte Märzrevolution. „Ich sterbe für die Freiheit“, das waren die letzten Worte des Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum, der in Wien von den Truppen der Gegenrevolution erschossen wurde. Angestrebt wurden mehr politische Freiheit und demokratische Reformen in den Staaten des Deutschen Bundes, im Ausgleich zu monarchischer Autorität. Die Bewegung scheiterte an reaktionären Kräften.

Auch im Herbst 1918 kam es zu einer Revolutionsbewegung. Die Kriegsniederlage stand fest, der Ruf nach Frieden und einer Abdankung des Kaisers wurde lauter. Am 9. November erfasste die Revolution Berlin. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann rief von einem Balkon des Berliner Reichstags die erste deutsche Republik aus. Die Weimarer Republik hatte es von Anfang an sehr schwer – Massenarbeitslosigkeit, Kriegsschäden und Reparationsforderungen stellten sie vor eine Zerreißprobe. Antidemokratische Strömungen bekamen Aufwind und lieferten den Nährboden für den Nationalsozialismus.

In dieser unsicheren politischen Lage plante Adolf Hitler als Parteiführer der NSDAP in München einen gewaltsamen Putsch: Sein Ziel war es, die Regierung in Berlin abzusetzen und selbst die Macht in einer Diktatur zu übernehmen. Am Sonntagmorgen des 9. November 1923 marschierte er zusammen mit General Ludendorff und weiteren Anhängern zur Feldherrnhalle in München. Doch die bayerische Polizei stoppte den Marsch und damit auch Hitlers Versuch, gewaltsam an die Macht zu gelangen. Die NSDAP wurde verboten, Hitler zu fünf Jahren Haft verurteilt. Zehn Jahre später war er dann doch erfolgreich, auf legalem Wege an die Macht zu kommen.

1938 zeigte sich der „Fluch des 9. November“ in seiner furchtbarsten Form: SA-Truppen und Angehörige der SS organisierten gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Mindestens 8.000 jüdische Geschäfte wurden zerstört, 1.200 Synagogen niedergebrannt sowie zahllose Wohnungen verwüstet. Etwa 100 Juden wurden erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt. In den Tagen darauf wurden im ganzen deutschen Reich etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Die Nationalsozialisten betrieben die Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bürger*innen seit der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 systematisch. Die Übergriffe am 9. November 1938 gingen als „Reichspogromnacht“ in die Geschichte ein.

Im Jahre 1989 zeigte sich der 9. November für unzählige Menschen als ein segensreicher Tag. Schon Wochen zuvor hatten Hunderttausende vor allem in Berlin und Leipzig gegen das DDR-Regime friedlich demonstriert. Nun war der Höhepunkt erreicht, das SED-Regime zerfiel. Am Abend des 9. November verkündete DDR-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz überraschend die sofortige Öffnung der Mauer.

Der Historiker und Journalist Wolfgang Niess publizierte kürzlich sein Buch „Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag“ (erschienen Sept. 2021, Verlag H. C. Beck, 26,00 €). Er erzählt, was jeweils geschah und beschreibt den Kampf um die Erinnerung – z. B. auch, warum die Regierung Helmut Kohl den 3. Oktober als Feiertag für die Deutsche Einheit auswählte und nicht den 9. November.

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