INGRID LIEZ …
Teil 1
Stellen Sie sich vor, die Grünen würden die nächste Bundestagswahl gewinnen und könnten den nächsten Bundeskanzler/die nächste Bundeskanzlerin stellen. Sicher ist Ihnen dieser Gedanke auch schon mal gekommen, spätestens nach der Europawahl und nach den Aussagen vieler junger Leute und Erstwähler/-innen. Was würde sich in Deutschland verändern und ist das Szenario wirklich realistisch?
Diesen Fragen möchte ich in diesem Kommentar und einem nächsten nachgehen.
Der potenzielle Kanzler-Kandidat der Grünen, Robert Habek, hat es drauf, ohne Zweifel. Er sieht gut aus und macht sich gut auf Wahlplakaten. Anders als viele andere der papierenen Lachgesichter ist der 1969 in Lübeck geborene Habek ein kluger Kopf und versiert in Sachen Politik. Er hat Philosophie und Philologie studiert, arbeitet seit 1999 als Schriftsteller und war bereits stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Seit 2018 ist er gemeinsam mit Annalena Baerbock Parteivorsitzender bei Bündnis 90/Die Grünen.
Mit seiner Frau Andrea Paluch hat er nicht nur vier Söhne, sondern schreibt viele seiner Bücher auch mit ihr gemeinsam, z. B. den spannenden Roman „Hauke Haiens Tod“ (2001), der Bezug nimmt auf den Schimmelreiter aus Theodor Storms gleichnamiger Novelle. 2016 erschien seine politische Autobiographie „Wer wagt, beginnt“ und 2018 veröffentlichte er das Buch „Wer wir sein könnten“, in dem es um den „offenen und vielfältigen Gebrauch von Sprache“ in der Demokratie geht.
Die Grünen sind im Aufwind, nicht erst seit der EU-Wahl. Und nicht erst seit dem „Rezo-Video“ wissen wir alle, dass junge Wähler/-innen und solche, die es in den nächsten Jahren werden, sehr häufig zu Grün tendieren. Und da der Klimawandel durch Hitzewellen, Stürme und andere Katastrophen im kollektiven Bewusstsein endlich angekommen ist, steigt auch die Angst bei den Menschen, was sich in den nächsten Jahrzehnten klimatisch auf dem Planeten verändern wird – Stichwort Katastrophen, Klimaflüchtlinge, weltwirtschaftliche Einbrüche. Den Grünen traut man zu, Deutschlands Anteil an der Entwicklung hin zur globalen Klimakatastrophe weiter zu reduzieren, das Ruder noch herumzureißen. Man traut ihnen auch zu, hier für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch wird es wirklich genug Wähler geben, wenn es um die – durchaus großartig gedachten – Finanzierungspläne zur Abschaffung von Hartz IV, der Einführung einer Kindergrundsicherung, der sog. Garantiesicherung (eine Art bedingungsloses Grundeinkommen) oder dem „Klimafonds“ geht? Wenn man Geld „von oben nach unten“ umverteilt, schafft man sich Feinde, auch in den Reihen der eigenen Wähler: Laut eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. 6. 2019 hat die Grünen-Wählerschaft im Durchschnitt ein Einkommen von 3000 € im Monat, 72% der Grünen-Anhänger sind Angestellte, 10% Beamte, nur 9% Arbeiter. Bei der letzten Bundestagswahl wählte die Arbeiterschaft in erster Linie CDU, SPD und AfD. Im Westen sind die Grünen stärker als im Osten, ihre Hochburgen liegen in den Großstädten und bei Hochschulabsolventen. (www.welt.de, 24. 9. 2017).
Einen ersten Höhenflug in den Umfragen erlebten die Grünen nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, heißt es in dem oben erwähnten FAZ-Artikel. „Selbstbewusst“ gingen sie in den Bundestagswahlkampf 2013 und forderten u.a. einen Spitzendsteuersatz von 49 %, der sich bereits bei einem Einkommen von 80.000 € voll auswirken sollte. Fazit: Bei dieser Wahl bekamen die Grünen nur 8,4%. Das eigene Portemonnaie tragen die wohlhabenderen Bürger eben doch ganz nah bei sich, auch wenn es um soziale Gerechtigkeit und Stabilität, Demokratie und ganz allgemein um den Zustand der Umwelt und des Planeten geht.
Das Szenario mit dem Grünen Bundeskanzler/der Bundeskanzlerin ist nur realistisch, wenn die Grünen ihre Ideen und Ziele gut verkaufen und vielleicht weiter zu einem allgemeinen Bewusstseinswandel im Hinblick auf die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und der Umwelt beitragen.
Teil 2
Konsequenter Klimaschutz, Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit, Abschaffung von Hartz IV, Garantiesicherung, Kindergrundsicherung – die Grünen haben hehre Ziele! Sehr idealistisch lesen sich Auszüge aus dem Parteiprogramm, doch sind die Vorschläge auch umsetzbar und können die Grünen diese an die Wähler/-innen vermitteln?
Ganz klar auf ihrer Seite haben die Grünen bereits einen beachtlichen Teil junger Wähler/innen. Bei älteren Deutschen oder auch bei der Mittelschicht wird es für sie schon schwieriger, und es ist zudem nicht von der Hand zu weisen, dass die Partei mit ihren Ideen die eigene Wählerschaft teilweise zur Kasse bitten will (vgl. FAZ vom 22. 6. 19). Hier sind sicherlich noch eine Menge Überzeugungsarbeit und ausgereiftere Konzepte vonnöten. „Der Erfolg zwingt die Grünen in neue Kleider, die noch zu groß sind“, titelt denn auch das Magazin „Focus“ vom 13. Juli 2019.
Aber: „Grüne Politik will das Leben der Menschen, und zwar aller
Menschen, besser machen“, heißt es in einer Einführung auf
www.gruene.de. Warum wählen gutsituierte Angestellte und
Hochschulabsolventen eher Bündnis90/Die Grünen als Arbeiter und Hartz
IV-Empfänger? Weil diese sich über die Asylpolitik der Grünen ärgern?
Deutlich äußern sich die Grünen im Hinblick auf die Verantwortlichkeit
der EU für die Migranten und fordern ein einheitliches europäisches
Asylsystem. Humane Grenzkontrollen und Erstunterbringungen sind hier das
Stichwort, ebenso ein europäischer Integrationsfonds. Die Grünen
unterstreichen, dass laut Informationen der Weltbank bis 2050 mit 140
Mio. Klimaflüchtlingen zu rechnen ist, deren Lebensgrundlagen in ihrer
Heimat vom Klimawandel vernichtet wurden. Auch dafür müsse die EU
Verantwortung übernehmen. Letzteres ist leicht gesagt, aber wie? Steht
zu hoffen, dass die Grünen eines Tages auch dafür Lösungen bieten
werden. Diese Menschenströme von vorneherein zu verhindern ist das
Grundthema der Grünen, nämlich die Klimapolitik. Mindestens 100
Milliarden Euro wollen sie in einen „Klimafonds“ investieren, der in
Deutschland für den Bau höherer Dämme, neue Stromleitungen und das
Pflanzen von hitzebeständigeren Baumsorten sorgen soll, aber auch für
die Erforschung von klimaneutralen Antriebstechniken.
Das Geld dafür solle nicht aus dem Bundeshaushalt fließen, sondern über Kredite im Rahmen einer „Klima-Bundesagentur“ finanziert werden, so äußerte sich die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckart gegenüber der FAZ. Die Streichung „sinnloser“ Subventionen wie für Diesel, Kerosin oder die Landwirtschaft sei eine weitere Finanzierungsmöglichkeit. Andererseits fordern die Grünen auch die Unterstützung derjenigen, die durch die Energiewende ihre Arbeit verlieren.
Ein weiteres großes Thema bei den Grünen ist daher die „Garantiesicherung“, eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, sowie die Erhöhung eines letztlich europaweit gleichen Mindestlohns. Hier wurden wohl die Zeichen der Zeit erkannt: Der Wandel der Arbeitswelt hin zu heterogenen Arbeitsverhältnissen (ein Leben lang Vollzeit-Arbeit wird die Ausnahme werden) werde weitergehen, neue Jobs im digitalen und Umweltbereich werden entstehen (www.gruene-bundestag.de). Eine Garantiesicherung ohne Sanktionen sei eine Lösung, um den „sozialen Sprengstoff“ zu entschärfen, der angesichts einer starken wirtschaftlichen Entwicklung des Landes unter den Verlierern dieser Entwicklung entstanden sei. „Auch in der Mittelschicht ist die Angst vor dem sozialen Abstieg angekommen. Trotz Arbeit zu wenig zum Leben zu haben, ist keine Ausnahmeerscheinung.“ Finanziert werden soll das System Garantiesicherung durch eine Finanztransaktionssteuer und/oder einer höheren Besteuerung von Kapitaleinkünften.
Das Geld aus Börsengeschäften bereits im Mikroprozentbereich von den Gewinnen abzuziehen, würde ausreichen, um eine angemessenes Grundeinkommen für alle zu garantieren, so rechnet der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch „Jäger, Hirten, Kritiker – eine Utopie für die digitale Gesellschaft“, 2018, vor. Das wäre in der Tat eine gerechte Umverteilung der Wohlstandsgewinne dieses Landes.