„Du bist für mich gecancelt!“

INGRID LIEZ …

Besonders im öffentlichen Raum bewegt man sich in den letzten Jahren immer öfter auf dünnem Eis, wenn man die eigene Meinung kundtut. Nicht nur Prominente müssen fürchten, durch mehr oder weniger unbedachte Äußerungen von ihren Followern, ihren Fans und von den Medien „gecancelt“ zu werden, das heißt medial ausgegrenzt, gemieden, verachtet, gemobbt, geshitstormt.

Etwa Mitte der 2010er Jahre kam der Begriff der „Cancel Culture“ auf. Auch die politischen Lager stehen sich, was dieses junge Internet-Phänomen betrifft, vorwurfsvoll gegenüber. An dem Vorwurf des Entstehens einer Verbots-Kultur auch jenseits des medialen Raums ist etwas dran.

Ab 2019 sorgte die Harry Potter-Autorin Joanne K. Rowling mit ihren Tweets über Trans-Menschen immer wieder für Kontroversen. Mit dem Schlagwort „RIP J.K.Rowling“ wurde dazu aufgerufen, sie sozusagen zu beerdigen und ihre Bücher nicht mehr zu lesen. Auch die Kabarettistin Lisa Eckhardt wurde 2018 vom Harbour Front Festival Hamburg ausgeladen, weil sie während eines Auftritts antisemitische Klischees bedient haben sollte. Immer wieder verschwinden seitdem Autoren aus Verlagsprogrammen, Filme und Serien aus dem Fernsehen oder Künstler von Bühnen. Und dabei werden die Anhänger der jeweiligen gecancelten Person ebenfalls geblockt und ausgeladen, gehören auf einmal nicht mehr dazu.

Was im Internet begonnen hat, wirkt sich mittlerweile auch außerhalb auf die Gesellschaft und ihre Mentalität aus. Ein weiteres Beispiel: Ein LOKAL-Leser schrieb in einem Brief an die Redaktion, dass er das Blatt von nun an ungelesen wegwerfe, weil hier zu viel gegendert werde.

Häufig wird Cancel Culture zum Instrument für diejenigen, die andere zum Schweigen bringen wollen, z. B., um selbst die Meinungshoheit zu behalten. So wird Cancel Culture zum Mittel dafür, der freien Meinungsäußerung, einer der Hauptkennzeichen der Demokratie, den Boden zu entziehen.

„Der typische Vorwurf der Cancel Culture ist, etwas gesagt (oder gedacht) zu haben, was niemand sagen darf, weil andere dadurch verletzt würden: Etwas Rassistisches, Sexistisches, Ökoblasphemisches, Homo- oder Transphobes, Islamophobes, Antisemitisches usw.“ heißt es auf www.cancelculture.de, eine Seite, die Fallbeispiele sammelt.

Jedoch: „Wenn sich selbst mit viel Fantasie partout nichts vermeintlich Rassistisches, Sexistisches etc. auftreiben lässt, reicht auch der Vorwurf, Rassismus etc. zu „verharmlosen“, oder zur Not auch, mit jemandem auf Facebook befreundet zu sein, der irgendetwas verharmlose. Kontaktschuld ist längst kein Tabu mehr. Die Grundregel lautet: Wo der Wille zur Diffamierung ist, da findet sich auch ein Weg.“

Unbenommen: Niemand soll andere beleidigen oder verletzen dürfen! Doch was ist das für eine Gesellschaft, in der wir anderen das Recht auf die freie Meinungsäußerung komplett absprechen? Einer der wichtigsten Werte der offenen Gesellschaft ist Toleranz. Dies bedeutet nicht, dass man die Meinungsgegner nicht scharf kritisieren darf! Man sollte jedoch die gegnerische Meinung aushalten und nicht verbieten.

Sowohl das politisch linke wie auch das rechte Lager benutzt Cancel Culture, um den jeweils anderen zu diffamieren. Die AfD kritisiert auf ihrer Homepage unter „Meinungsfreiheit“ die Cancel Culture, fordert eine offene Debattenkultur sowie Maßnahmen seitens der Regierung gegen „Meinungswächter und Faktenprüfer“. Bin ich bei Ihnen, liebe Leser*innen, nun „untendurch“, weil ich das erwähne?

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach von 2022 ergab, dass 35 % der Bevölkerung der Auffassung sind, die freie Meinungsäußerung sei nur noch auf privater Ebene möglich. Bei aller Liebe: Dieser Trend ist seit der Ampel-Regierung nicht schwächer, sondern stärker geworden.

Es wäre demokratieförderlich, wenn wir das Phänomen Cancel Culture als eine Plattform, eine Ausgangsbasis nutzen würden, um wieder sinnvoll und konstruktiv ins Gespräch zu kommen, ohne den anderen mundtot zu machen. Denn damit werden wir ihn oder sie auch keinesfalls von unserer eigenen Meinung überzeugen.