Einer von vielen: Ibrahim aus Syrien (Teil 1)

INA DECHANT …

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kommt fast ein Drittel der Geflüchteten in Deutschland aus Syrien. Von Januar bis Oktober 2023 waren das rund 100.000 Menschen. Der 28-jährige Ibrahim ist einer von ihnen. Ich habe ihn in seinem derzeitigen Zuhause, einem priva-ten Wohnhaus in Teublitz, das er sich mit weiteren 27 syrischen Männern und einer vierköpfigen syrischen Familie teilt, besucht und mich lange mit ihm über seine Erlebnisse in Syrien, in der Türkei und in Europa unterhalten.

Begleitet hatten mich der Vermieter des Wohnhauses und LOKAL-Herausgeberin Julia Krempl. Wir wurden herzlichst von Ibrahim und seinen Mitbewohnern empfangen. Getränke, Obst und Kekse standen für uns in Ibrahims Zimmer bereit, das er sich mit einem weiteren jungen Syrer teilt. „Das ist ganz normal bei uns in Syrien“, meinte Ibrahim dazu.

Ich kannte das auch aus Palästina so, wo ich vor einigen Jahren für eine Weile gelebt hatte. Trotz meiner dort erlernten Arabischkenntnisse war ich froh über Hilfe bei der Verständigung durch den Vermieter, der ebenfalls syrische Wurzeln hat. Es wäre wirklich schade gewesen, wenn ich nicht alle Details von Ibrahims bewegender Geschichte verstanden hätte.

Dieser war übrigens höchst überrascht darüber, dass sich hier jemand seine Geschichte anhören und sogar veröffentlichen möchte. „In der Türkei interessierte sich niemand für uns syrische Flüchtlinge“, meinte er zu den Zuständen in dem Land, in dem er viele Jahre verbracht hatte, bevor er seine Flucht nach Europa fortsetzte. „Ich freue mich, dass ich euch von meinen Erlebnissen erzählen darf.“

Ibrahim stammt aus Ar-Raqqa, einer historischen Stadt am Fluss des Euphrat im Nord-Osten Syriens. „Ich hatte sechs leibliche Geschwister und drei Halbgeschwister“, erzählt er uns. „Als ich sieben Jahre alt war, starb mein Vater und ich musste die Schule verlassen, um zu arbeiten. Ich jobbte zuerst in einer Schreinerei, dann in einer Metzgerei und zuletzt in einem Grillhaus.“

Als Ibrahim ein Teenager ist, bricht in Syrien der Bürgerkrieg aus. Ibrahim wird verhaftet und gefoltert, weil er an den Demonstrationen während des Arabischen Frühlings teilgenommen hatte. Noch heute ist sein rechtes Bein deswegen lädiert. Unter den vielen tragischen Erinnerungen, die Ibrahim an Syrien hat, ist die an den Tod seines Bruders die allerschlimmste. Unter Tränen erzählt er uns davon, wie sein Bruder einem Anschlag zum Opfer fiel. „Noch bevor ich 18 wurde, floh ich in die Türkei“, berichtete er weiter. Denn spätestens mit 19 wäre er zur Armee eingezogen worden und das wollte er auf jeden Fall verhindern.

Insgesamt acht Jahre verbringt Ibrahim in der Türkei. Dort lernt er auch seine syrische Frau kennen, mit der er zwei Kinder bekommt. Sie sind heute vier und zwei Jahre alt. „Ich habe in einem Restaurant in Istanbul gearbeitet. Um die Familie ernähren zu können, musste ich an sieben Tagen in der Woche sehr viel arbeiten. Freizeit hatte ich keine“, erzählte er. Weil die Mieten in Istanbul zu hoch waren, lebte er außerhalb der Stadt. Seine Frau und seine Kinder lebten in Iskenderun, ganz im Osten der Türkei, wo die Lebenskosten noch niedriger waren. Anders wäre die Familie nicht über die Runden gekommen.

Von einem Leben in Deutschland träumte Ibrahim schon damals: „Abends im Bett habe ich mir am Handy oft Berichte über Deutschland durchgelesen. Und von deutschen Touristen habe ich viel Gutes über das Land gehört.“ In der Türkei erfahren Ibrahim und seine Familie viel Diskriminierung und erleben einen Staat, der sich wenig um die Bedürfnisse der syrischen Flüchtlinge schert.

Das Erdbeben im Osten der Türkei im Februar 2023 trifft die Familie zusätzlich hart. Die Region, in der sich seine Frau und Kinder aufhalten, ist komplett zerstört. Wieder erlebt Ibrahim eine türkische Regierung, die die Menschen im Stich lässt. Ihn hält nun nichts mehr in der Türkei. Nachdem er seine Frau und seine Kinder an einen sicheren Ort gebracht und sie auf die Zeit ohne ihn vorbereitet hat, macht er sich auf den Weg nach Europa – schweren Herzens. Doch die Hoffnung auf ein sicheres und gutes Leben, jenseits von Krieg, Unterdrückung und Korrup-tion, gemeinsam mit seiner Familie, gab ihm Mut und Kraft.

Lesen Sie in der nächsten LOKAL-Ausgabe am 9.12.23, und
HIER auf LOKALNET, wie Ibrahims ereignisreiche Flucht weitergeht.

HIER der Start des Beitrags zu diesem TOP THEMA:
Flucht nach Deutschland, Endstation Städtedreieck?

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