INGRID LIEZ …
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über das Massaker von Oradour-sur-Glane in Frankreich am 10. Juni 1944 schreiben. Der Ort wurde völlig zerstört, 643 Menschen, Männer, Frauen und Kinder, wurden abgeschlachtet – von einer Division der deutschen Waffen-SS. Die Täter sind größtenteils bis zum heutigen Tag ungestraft davongekommen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war kürzlich dort und hat gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuelle Macron getrauert.
Als ich jedoch bei einer Internet- Suchmaschine die Worte „Massaker von“ eingab, erschien eine Reihe von Suchvorschlägen, die mich innehalten ließen.
Ortsnamen – Orte des Grauens – ploppten auf, die mich immer fassungsloser werden ließen, nachdem ich sie alle der Reihe nach anklickte. Die schiere Menge ließ mich plötzlich realisieren, wie viele von diesen Orten es auf der Erde gibt: Massaker von … Oradour 1941, Srebrenica/Bosnien 1995, Katyn/Sowjetunion 1940, Nanking/China 1937, My Lai 1968/Vietnam, Israel 2023, Babyn Jar/Ukraine 1941, Hebron/Palästina 1929, Nuseirat/Gaza 2024, Bleiburg/Kärnten 1945, Butscha/Ukraine 2022, Sabra und Schatila/Libanon 1982. Diese Liste ließe sich quer über die Jahrhunderte und Nationen endlos fortsetzen, mit Absicht habe ich die Namen hier in anachronistischer Reihenfolge aufgeführt. Unvorstellbar, was wir Menschen einander antun – warum?
Diese Frage lässt sich an dieser Stelle nicht wirklich beantworten, wenn überhaupt. Reduziert auf ein Minimum lässt sich sagen, dass es in Kriegen und Konflikten IMMER darum geht, dass der sogenannte „Feind“ ANDERS ist. Entweder hat er eine andere Religion, eine andere Hautfarbe, eine andere Weltanschauung usw. Er gehört nicht zum Kollektiv.
Der Hintergrund: ANGST. Oder der „Feind“ besitzt etwas, das man begehrt – sei es Land, Rohstoffe, Vermögen oder schlicht Wasser. Der Hintergrund: ANGST.
Und obwohl wir Menschen immer eine Wahl haben (mal davon abgesehen, dass als Teil eines bestimmten Kollektivs, z. B. einer Armee oder ethnischen Gruppe, die bei Zuwiderhandlung abstraft, das Wählen schon sehr erschwert ist), geben wir dem Impuls der Angst und der daraus erwachsenden Aggression sehr oft nach. Kein Kind wird wohl „böse“ geboren!
Das „Böse“ erscheint als ein Konstrukt, das sich auflöst, wenn man dahinterschaut. Es beginnt jedoch schon immer im ganz Kleinen: In der Familie, in der Nachbarschaft, im Wohnort, wie wir miteinander umgehen. Und es beginnen Entwicklung und Förderung des angstgetriebenen Impulses schon sehr früh im Leben.
Die Erfahrung von Macht und Überlegenheit bzw. von Ohnmacht wird im Kleinkindalter gelegt, wenn nicht sogar noch früher. Deshalb sind liebevolle Förderung und Erziehung schon der Kleinsten so immens wichtig, man kann es gar nicht überbetonen! Es sind die Teufelskreisläufe von Generation zu Generation, die es zu durchbrechen gilt, denn sie bringen immer wieder dieselben Traumata hervor, setzen das Grauen fort.
Abgesehen davon denke ich, dass Soldaten oder auch Terroristen in eine Art Blutrausch verfallen, der das menschliche Großhirn und die Vernunft komplett ausschaltet, wenn sie im Begriff sind, Schreckliches zu tun, wie wehrlose Frauen und Kinder zu töten. Oder gibt es etwa doch tief in jedem von uns eine böse, dunkle und gnadenlose Seite?
„Unsere zwei Völker blicken Hand in Hand und Seite an Seite auf Oradour“, sagte Bundespräsident Steinmeier während der Erinnerungszeremonie am 80. Jahrestag des Massakers. Mit dem vereinten Europa und dem „Wunder der Versöhnung“ wurden schon Ziele erreicht, die nicht in Frage gestellt werden dürfen.
Doch wie soll es nun weitergehen, wie den Frieden bewahren? Denn die Vergangenheit meldet sich mit dem russischen Aggressor auf perfide Weise zurück.
Wieder muss die Demokratie verteidigt werden, denn im Osten wartet einer darauf, dass Europa von innen kollabiert, dass es schwach und angreifbar wird. Nach der Wahl ist das EU-Parlament nach rechts gerückt und ist zersplitterter als je zuvor.
Niemand weiß, wo die Reise hingeht, doch keiner möchte der langen Reihe von Massakern im Laufe der Menschheitsgeschichte weitere hinzufügen.